Margit Weinberg Staber

Die Sphäre des Konstruktiven / 2020

Rita Ernst

Einladungskarten zu Ausstellungen? Ich behalte sie als Erinnerungsstütze über Werkphasen, Werkfortschritte, Veränderungen und neue Ideen. Wohin damit? Einfach und effizient jederzeit eine gute Information liegen sie in einem Katalog der entsprechenden Künstler oder Künstlerinnen. Hier nun eine zu Rita Ernst im vergangenen April 2020 in Fribourg. «Spazio» hiess die Ausstellung1, stattgefunden hat sie nicht. «Neue Weite» ist der Titel des auf der Einladungskarte abgebildeten Werkes. Ohne Rahmen offen nach allen Seiten, könnte es, dynamisch schräg in die Fläche gelegt, mit dem Goldton der letzten Jahre und einem hellen Blau, ins Unendliche vordringen.

Raum?

Welche Art von Raum, was für Raumvorstellungen, oder Fantasien über das, was Raum bedeuten könnte, werden hier angesprochen? Unsere alltägliche Wahrnehmung? Metaphysische Träume? Alles ist möglich durch unsere Interpretation. Die Erfindung der klassischen Perspektive, das heisst einfach gesagt, wie man die drei Dimensionen unserer Lebenswelt in zwei Dimensionen flächig nachvollziehbar macht, liegt Jahrhunderte zurück: eine fundamentale Erkenntnis und Erfindung auch für die Geschichte der Malerei. Heute eine Binsenwahrheit, und digitale Techniken nehmen sich der Sache an. Insbesondere denkt man an die Architektur, die in Ritas Malerei stets eine wichtige Rolle gespielt hat. In jedem Fall braucht es menschliche

Erfindungskraft, damit die zunächst einmal illusorische Vorstellung des Geplanten vor unseren Augen nachvollziehbar wird. – Bleiben wir bei der Malerei. Um 1900, lange ist es her, es ist zur Selbstverständlichkeit geworden, brachen die Prozesse der Abstraktion auf, wurden zum Faszinosum der Kunstgemeinde und traten zum darstellenden Realismus in Konkurrenz. Kandinsky hat es beispielhaft gezeigt.

Was zunächst ein unerprobtes Experiment war, ja, auch ein Exorzismus des Realismus, ist im Hin und Her gleichwertigen Optionen aller Stile aufgegangen. Wieder einmal hat der Anblick eines Bildes, die «Neue Weite», in mir Reminiszenzen ausgelöst über die Unendlichkeit der kreativen Möglichkeiten. Ein schönes Erlebnis, das der Anblick eines Bildes so im nebenbei vermittelt– Rita Ernst ist unbeirrt ihren besonderen, ganz eigenen Weg gegangen, und sie hat im Kontext des Konstruktiven ohne Scheuklappen scheinbar zur Tradition gewordenen Konzepte neu und anders, unverbraucht erfunden. Wie schon festgehalten: die Architektur ein gewichtiger Ankerpunkt ihres Schaffens. Auf einer erstaunlich konstanten wie verwandlungsfähigen künstlerischen Laufbahn hat sie nun schon eine beachtliche Wegstrecke zurückgelegt, die keine Erfolgsmüdigkeit je aufkommen lässt und sich im ästhetisch en Reizklima der aktuellen Szene behauptet. Auch eine Wohltat der Entschleunigung.

*

Vor einiger Zeit habe ich Rita Ernst in ihrem Atelier am Rindermarkt in der Zürcher Altstadt besucht. Man sah, wie man sich gewohnt ist, viele Leute auf der Strasse; manche eilten vorbei, manche blickten in die Schaufenster der vielen, speziellen Geschäfte an diesem so lebenswerten Ort. Inzwischen ist alles nicht mehr wie es war. Es sind viele Jahre seit ich Ritas Entwicklung als Malerin verfolge. Ihre Arbeit waren mir immer wieder ein Beweis, dass die konkrete Kunst mit ihrem hohen Stellenwert und einer bedeutenden Tradition in der vielseitig aktiven Kunststadt Zürich unvermindert wirksam ist und keine einengenden Fesseln kennt. Vorurteile gegen das Strenge, Gerade, eben Konstruktive., die sie mit einigen Kolleginnen und Kollegen gemeinsam zweifellos widerlegt. – Mitte April schickte mir Rita ein Mail; ich hatte mich nach ihrem Wohlbefinden erkundigt.

Alles, unser ganzer Lebensrhythmus hat sich seit unserem letzten Gedankenaustausch radikal verändert. Die Stadt ist leer geworden, nicht die manches Mal ersehnte Stille, sondern erzwungener Stillstand prägt den Tagesablauf, als hätte eine Geisterhand unsere zivilisatorische, und damit auch unsere kulturelle Existenz angehalten.

Rita schreibt:

«Ich habe ja immer einen Rückzugsort gebraucht, Umbrien, dann Sizilien. Eigentlich waren meine Aufenthalte fern von Zürich in einer Form immer selbstgewählte Isolation. Die Rückbesinnung auf mich – Ruhe finden. Für mich Wichtiges und Unwichtiges trennen, so dass wieder etwas entstehen kann, etwas was von mir kommt und aus mir. So ist diese Situation jetzt für mich nichts Neues, nichts Schlimmes, eher sogar das Gegenteil. Eine solche Agenda, durch Ausstellungsabbruch, durch Absagen etc. Ich liebe meinen eigenen Rhythmus zu leben; mit allem: schlafen, malen, lesen, schreiben, spazieren, trinken, essen, einfach in allem. Ich brauche es Zeit zu haben, keine Uhr am Handgelenk, mich fallen zu lassen. Bei mir sein.» Viele Kunstschaffenden werden den Aktivismus, die anfeuernde Hektik des Kunstbetriebs vermissen. Nicht Rita, und ihren Bildern sieht man diese Verinnerlichung an, die beim Betrachten ein wohltuendes Innehalten vom Tagesbetrieb auslösen. Rita hat ihrem Mail, aus dem ich hier zitiere, einige Werkbeispiele beigelegt, ganz in ihrem Stil konstruktiv durchdachter Strukturen. Jedoch sucht man vergeblich nach identifizierbaren, geometrisch begründeten Systemen, wie sie unverkennbar zum Markenzeichen der Altmeister der Zürcher Konkreten mit den entsprechend beschreibenden Werktiteln geworden sind.

Ja, die Bildtitel: die von Rita weisen auf Anregungen, auf Motive der Aussenwelt hin und liefern einen Schlüssel des Verstehens weit über das kompositionelle Muster hinaus. – Josef Albers kommt in den Sinn mit seiner legendären Reihe «Hommage to the Square». Ich erinnere mich an einen Besuch in seinem typisch im Wald gelegenen Haus in New Haven. Eines um das andere der Bilder zog er aus dem Gestell und erzählte von der Wüstengegend in New Mexiko mit den wechselnden Farbstimmungen der sandigen Natur. Was für eine Inspirationsquelle, unerschöpflich! Rita sagt, was sie mache, habe denn auch mit Mathematik nichts zu tun. Dass es sich um regelgenaue Ordnungsfolgen handelt, worin die Farben ihre «Interaction of Color» (Albers) entfalten – das erkennt man auf den ersten Blick. Ihre Anregungen entstammen der realen Welt und gehen ein in die Urformen Quadrat, Punkt, Raute, Linie, Rechteck und Dreieck, Bogenformen. Lineare Strukturen tauchen immer wieder auf. Die Farbkonstellationen fassen rhythmisierend zusammen. Zusehends bereichern überraschende Goldtöne. Ihr Interesse gilt zudem reinen Schwarz-Weiss-Kontrasten. Asymmetrien und Verzerrungen, Teilungen und Schnitte sind Teil ihrer bildnerischen Strategie, wobei computergenerierte Formveränderungen mit ins Spiel kommen. Nicht zu übersehen ist das energetisch die Fläche aufladende Element der Diagonale. Von jeher war sie eine manipulative Option im Vokabular des Konstruktiven.

Und siehe da: früh schon, wie eine Vorwegnahme des kommenden Werkes, fasst eine aus quadratischen kleinen Einheiten (15 x 15 cm) aufgebaute Komposition 1985 die anvisierte Zukunft zusammen und nennt sich «100 Möglichkeiten von Waagrecht – Senkrecht – Diagonal – Verbindung». Viel Schwarz bindet sich in den Wechsel von Gelb, Rot, Blau und Grün ein. Alles hat seine Ordnung. Das Auge wandert hin und her, sucht Zusammenhang im kombinatorischen Muster der fein durchlaufenden schwarzen Umrandungen und Teilungen. Das Ganze bleibt irritierend rätselhaft. – Eine durchgehende Ideenfolge in Ritas Bildforschung auszumachen, das allerdings fällt schwer, obwohl wir das Ganze als ein Work in Progress lesen. Das Geheimnis ihrer prozesshaft voran strebenden kreativen Denkweise? – Der Titel einer Ausstellung aus dem Jahr 2010 heisst «Die Intuition der Logik» und ich hätte diesen Schlüsselbegriff gerne selbst erfunden. (2)

Die Beispiele, die Rita mir zugeschickt hat, stammen aus dem Atelier in Thun, sind jüngeren Datums. Grossformatig mit diagonal aufeinander bezogenen, übereinander gestaffelten Teilformen, ist einmal mehr das Schwarz wichtig, und: da ist sie wieder, die Diagonale. «Spontan habe ich sie CC. Genannt, Contracorona.» Damit sind wir in der Gegenwart. Kunstschaffende haben die besondere Fähigkeit, das Zeitgeschehen in guten wie in schlechten Tagen auszudeuten und in ihre individuelle Sprache zu integrieren. Rita, die sich in der Kunstgeschichte gut auskennt, würde zweifellos Beispiele finden, um diese Behauptung zu stützen. Wir erleben eine schwere, bedrohliche Krise. Könnte es sein, dass Rita unsere verdüsterte Gemütslage in die Ausstrahlung dieser Bilderreihe projiziert hat, vielleicht immer noch tut? Mag sein. Zugleich dürfen wir diese Bildschöpfungen als eine Suche nach jener Ausgewogenheit lesen, welche die Malerin seit jeher sucht und gerade durch die innewohnende Ambivalenz so spannungsvoll wirkt? In einer besonderen Zeit hat sie besondere Bilder gemalt: ein Kontrapunkt zur wohl nur scheinbar mit Heiterkeit aufgeladenen Präsenz der früheren Recherchen.

Kehren wir in ihr Zürcher Studio zurück.

Bilder stehen ordentlich gestaffelt an den Wänden des lang gestreckten Raumes mit Fenstern auf den rückwärtigen, kleinen Gartenhof. Leinwände unterschiedlichen Formats und unterschiedlichen Datums hängen an den Wänden, der Selbstprüfung und dem Vergleich ausgesetzt. Auf den Tischen ausgebreitet die vorbereitenden Skizzen, minutiös ausgearbeitet. Verschiebungen auf transparentem Papier erzeugen veränderte Sichtweisen. Das führt zu einem aussergewöhnlichen Thema, das Rita seit den 90er Jahren weiterführt. Ich meine die Auseinandersetzung mit dem Motiv des Grundrisses. Was ist ein Grundriss? Banal ausgedrückt, der in die zweidimensionale Fläche gelegte Plan für ein wie immer auch imaginiertes Gebäude. Heute operieren Architekten mit Computervisionen, um zu simulieren was dreidimensional Form annehmen soll. Aber ich denke, dass die Hand des Architekten das Planvorhaben immer noch mit Vorstellungen des künftigen Gebrauchs auf dem Papier vorwegnimmt. Die Frage schwingt mit: wie soll das Ganze aussehen? Probeläufe für die Einheit von Funktion und Aesthetik. Zunächst kehrt Rita in die Vergangenheit zurück sie eignet sich kulturelle Substanz an wie sie weiterlebt in Kathedralen, Palästen, Paradiesgärten längst vergangener Zeit im Umfeld ihres langjährigen sizilianischen Domizils. Den inspirativen Faden spinnt sie weiter in Tunesien, wo sie ornamentalen Mustern von Mosaiken und Bodenplatten nachgeht.

«Den Sachen auf den Grund gehen» sagt sie, und diese Selbsteinschätzung, die ihr künstlerisches Schaffen insgesamt charakterisiert, trifft bei der Thematik des Grundrisses ganz buchstäblich zu. Ein zentrales Objekt ihrer diesbezüglichen Recherchen führt in die klassische Moderne zu den Grundrisszeichnungen von Mies van der Rohe: das Haus Tugendhat entsteht Ende der 1920er Jahre, ungefähr gleichzeitig mit dem deutschen Pavillon an der internationalen Ausstellung in Barcelona (3). Als «Barcelona-Pavillon »ist die schwerelos wirkende Struktur mit dem Travertin-Sockel, den Travertinscheiben, Stahlstützen und Glasflächen zu einer Ikone des Neuen Bauens geworden.

Zweifellos hat die Eleganz des aussergewöhnlichen Entwurfs mit den Asymmetrien der Raumfolge die Malerin in ihren Bann gezogen. Die Eleganz einer Lösung, in der die Mühsal des Entwurfsprozesses verschwindet, wird im Allgemeinen unterschätzt. Man darf an das asymmetrische Gleichgewicht von Mondrian denken. Gewiss hat Rita über all das intensiv nachgedacht. Eine Ausstellung 2010 in Berlin (4) hat die Mies gewidmete Werkfolge von Rita Ernst gezeigt, gemeinsam mit weiteren, sich auf die Grundrisse des Meisterarchitekten beziehende Bilder: ein Höhepunkt in ihrem Schaffen. Das Kolorit, die Nichtfarben Schwarz und Weiss, Linien und Rechtecke finden zusammen als würde Johann Sebastian Bach im Hintergrund einen musikalischen Gegenpart erklingen lassen. Unverkennbar ist ihre Bildsprache, und zugleich erscheint die Vorstellungswelt der Künstlerin in einer neuen Tonalität. Interpretation verwandelt sich in Inspiration.

Ein kleines Buch hat mir Rita geschenkt. Sie hat es herausgegeben. Es handelt von einem aus Sizilien (Trapani) stammenden Künstler, dessen Name hier zu Lande kaum jemand kennt. Angesehen in seiner sizilianischen Heimat, war Mario Cassisa (1929 -2008) zugleich ein viel gereister Kosmopolit mit Ausstellungen in der ganzen Welt. Schaut man bei Wikipedia nach, öffnet sich eine aus wilden Farben und Figuren gewobene unerschöpfliche Bildlandschaft ohne Anfang und Ende, Mythen, Mythologien, Folklore, Träume und Fantasien. In der Tat sagt der Buchtitel alles: «Il Labirinto della Memoria» (5).

Kunsthistorisch betrachtet, müsste man den erstaunlichen Mann ins Kapitel der Art Brut einordnen. Vielleicht hat Ritas Interesse geweckt, wie der Künstler seine überbordenden Visionen in Bildern, Collagen und Objekten, und nicht zuletzt in den «Libri d’Artista», mit präzis ordnender Hand zur visuellen Einheit zähmen konnte. So betrachtet, wäre Marios Künstlernatur dem konstruktiven Kunstdenken gar nicht so fremd. Ein Tiefenpsychologe müsste den einmaligen Einfallsreichtum ausdeuten. Dem Betrachter bleibt die reine Augenfreude und mancherlei unerwartete Fragen und Antworten tun sich in uns auf. Rita hat Marios Nachlass geordnet und inventarisiert. «Seit über zwanzig Jahren arbeite und lebe ich immer wieder in Trapani. Sizilien hat mich reich beschenkt und viel Inspiration für meine Kunst gegeben.» Einflüsse und Uebertragungen gehen verschlungene Pfade. Rita: «Ich bin eine geometrisch konstruktiv arbeitende Künstlerin, mein Vorgehen in der Arbeit ist geordnet und klar. Konzept-Kunst steht mir näher als Chaos.»

Das Stichwort Konzept-Kunst»! Was kommt in den Sinn? Das Kapitel «Individuelle Mythologien – Selbstdarstellung Prozesse» an der von Harald Szeemann realisierten documenta 5 in Kassel von 1972 (6). Ein Meilenstein für das Kunstverständnis der kommenden Jahre. Mario hätte einen Ehrenplatz verdient unter den damals vereinten Talenten. Viele zählen heute zu Bahnbrechern, an der Spitze Josef Beuys. Szeeman hat damals in einer von Männern dominierten Kunstwelt die Frau nicht vergessen: mit anderen zusammen Rebecca Horn, Eva Hesse oder Nancy Graves. Gegensätze ziehen sich an, noch eine Binsenwahrheit, sie stimmt in der Kunst auch für Gegenentwürfe zur eigenen Position. Szeeman war im Uebrigen auch ein guter Kenner der konstruktiven Kunst. Seinerzeit in Kassel freilich keine Option.

Rita hat ihren Platz im Erfindungshorizont des Konstruktiven gefunden. Wer weiss, was für Geheimnisse, Gefühle, Zweifel und Erinnerungen sich in ihren kristallinen Strukturen verbergen? Eine visualisierte Fortsetzungsgeschichte, das schenkt sie uns, zu der man sich noch viele weitere Kapitel wünscht. Josef Albers: «In science one plus one is always two, in art it can also be three, or more” (7). Gerne würde ich eines ihrer Bilder neben eines von Mario Cassia an die Wand hängen. Eine Architekturzeichnung von Mies van der Rohe würde das ästhetische Potential ergänzen.

Nachwort:

Eines führt zum anderen. Alle bisherigen Beobachtungen und Ueberlegungen fallen in ein Ganzes zusammen. Rita ist zurück in der Stadt. Gerne würde ich sie nochmals besuchen und meine Eindrücke auffrischen. Das muss noch warten. Sie schickt mir – «von meinem i-Phone gesendet» – noch einige Fotografien, die ihr Atelier, und auch ihre Wohnwelt zeigen, sodass ich einen noch privilegierteren Einblick in ihren Lebensalltag gewinne. Zustand, Fortschritt, Bestand, hinschauen, Anteil nehmen. Auslegeordnungen auf den langen Tischen, Skizzen und Bilder halbfertig. Eine grosse Staffelei mit einer grossen Leinwand auf der eine Bildstruktur, ein Farbschema wie aus dem Entwurfsdenken im Kopf schemenhaft auftaucht. Spartanisch ihre Einrichtung, schlägt Rita die Augen morgens auf ist sie inmitten aller Stadien ihrer Arbeit.

Und da ist noch etwas zu sehen auf dieser Fotoserie: das Licht. Es ist nicht nur ausschlaggebend für die kreativ organisierende Umsetzung einer Idee in Realität durch Künstlerhand, wichtig auch für Wahrnehmung und Beobachtung künstlerischer Arbeit im Fokus der Betrachter. Vom Gartenhof her fällt eine aktivierende Helligkeit und verbindet die Aussenwelt grüner Natur mit der Innenwelt aus Form und Farbe. Die Aufnahmen bestätigen, dass für Rita Bildgestalt/ Bildfigur und Farbkonstellation nicht in einem kreativen Rausch aus der Fantasie in die Realität einfliessen. Hier im Atelier darf man dem Ringen um Lösungen folgen, Schritt um Schritt. Das Angefangene, das Fertige, das bereits Archivierte fügen sich zusammen.

Eine Aufnahme zieht mich ganz besonders an: zufällig vielleicht versammelt auf dieser Wand, besser als es eine inszenierte Ausstellung tun könnte, blicken wir in Ritas malerisches Reich. Ein Reich, das auch Reichtum bedeutet in der scheinbar begrenzten Sphäre des Konstruktiven. Die Schräge haben wir abgehandelt, die Goldtöne auch, über Schwarz und Weiss uns Gedanken gemacht. Ganz oben hängen nebeneinander zwei kleinformatige Bilder, die diesen Hell-/Dunkel-Kontrast aufnehmen, und die Schräge auch. Soweit man es in der Distanz der Fotografie beurteilen kann, wirken die beiden Kompositionen ziemlich kompliziert, als würden sie aus dem rechten Winkel kippen, das räumliche Verhältnis in der Schwebe. Spannend. « … Ausgangspunkt eine in schwarz und weiss gemalte Decke im Benediktiner-Kloster Müstair. Dazu sind viele Bilder entstanden … ». Assoziationen gehen seltsame Wege. Aus einer Schublade, in der ich mich interessierende Postkarten aufbewahre, ziehe ich einen zusehends wachsenden Stapel heraus. Es sind die frommen Frauen dieser einmalige baulichen, zum Weltkulturerbe zählenden, über tausend Jahre alten Anlage , die diese Karten in immer neuen Folgen von Zeit zu Zeit schicken mit der Bitte, doch zum Erhalt von Müstair etwas beizutragen. Zeichnungen wohl aus der Hand einer der Benediktinerinnen sind zu sehen, die den Klosteralltag nach der Regel ora et labora zeigen, fein und klein dargestellt, fast schon witzig und unwiderstehlich: «Wir beten und arbeiten – und turnen täglich zehn Minuten» heisst es da. Alles passt irgendwie zusammen, das Konstruktive schleicht sich überall wie ein subversives Elixier ein.

Zurück ins Atelier: Noch etwas ist wohl eher zufällig in den Fokus von Ritas i-Phone-Fotos geraten. Oben auf einem Gestell, das der Aufbewahrung ihrer Bilder dient, stehen zwei Köpfe, Mann und Frau, etwa lebensgross. Weis glänzen die Gesichter, vermutlich aus Porzellan, Schmuckelemente, nicht im Detail zu erkennen, ragen heraus. Der sizilianische Kontext liegt nahe, die Befindlichkeit der konstruktiv etablierten Künstlerin scheinbar weit weg. Vergessen wir unsere schubladisierte Engstirnigkeit. Die «Intuition der Logik» wäre wenig wirksam ohne kulturelles Netzwerk, das eben auch der rechte

Winkel trägt und aktiviert. Eben: «Trotz der Geraden».

Margit Weinberg Staber
Frühjahr/ Frühsommer 2020

1 Rita Ernst, Spazio, Galerie St-Hilaire Fribourg, März-April 2020.
2 Die Intuition der Logik, Haus Konstruktiv Zürich, November 2009-Februar 2010, Dorothea Strauss, Die Intuition der Logik.
3 Das Haus Tugendhat in Brünn 1930 war das letzte bedeutende Werk von Mies van der Rohe (1886-1969) in Europa, ein sogenanntes Hofhaus mit teils überdachen, teils offenen Räumen. – Deutscher Pavillon an der Internationalen Ausstellung in Barcelona. Eines der einflussreichsten Gebäude des 20. Jahrhunderts.
4 Rita Ernst, Projekt – Mies van der Rohe, Mies van der Rohe Haus Berlin 27.3.-27.6.2010. Der Katalog enthält ein Gespräch von Wita Noack mit Rita Ernst.
5 Il Labirinto della Memoria, Mario Cassisa, a cura die Rita Ernst 2018. Ausstellung Museo San Rocco die Arte Contemporanea, Trapani.
6 Documenta 5, Kapitel 16, Harald Szeemann, Befragung der Realität Bildwelten heute, Kassel 1972.
7 Josef Albers, zitiert aus: Werner Spies Albers, Modern Artists, Abrams New York, Vorspann.

Margit Weinberg Staber ist Kunsthschriftsstellerin und Kunstkritikerin