Bettina Held

Ernst follows Mies / 2010

Die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Mies van der Rohe Haus, programmatisch in dessen Funktion als Ausstellungshaus, stellt im Projekt Mies van der Rohe von Rita Ernst eine ganz besonders enge Verbindung der Miesschen Architektur mit der freien bildenden Kunst im vormaligen Wohnhaus Lemke dar: Rita Ernst nimmt Grundrisse von Mies als Grundlage für ihre Bilder.

Die Künstlerin wird allgemein der Nachfolge der Züricher Konkreten zugeordnet. Zwar ist ihre Arbeitsweise in dieser Tradition von einer wissenschaftlich-methodischen Herangehensweise geprägt. Jedoch nimmt Rita Ernst sich die Freiheit, bei aller Rationalität und Strenge der Systeme, die dem Schaffensprozeß zugrunde liegen, ebenso ihrer subjektiven Intuition, Gefühl und auch dem Zufall Raum zu geben.

Gemeinsam ist dem „neuen bauen”, für das Mies steht, und der „konkreten kunst” die Suche nach einer neuen und universellen Sprache in der Architektur bzw. in der Kunst, die neue Form der Gestaltung in Abkehr von der Tradition, aber auch die Beschränkung auf einfachste Grundelemente, die „reine” Gestaltung einer zugrunde liegenden Idee unter Verzicht auf alles Überflüssige. Gemeinsam sind Mies und Rita Ernst die außerordentliche Klarheit und Konsequenz im schöpferischen Prozeß.

Rita Ernst beschäftigt sich seit gut 12 Jahren mit Grundrissen. Es begann in Sizilien, wo sie sich mit arabisch-normannischer Sakralarchitektur, später auch mit den „Paradiesgärten” sizilianischer Palazzi auseinandersetzte, zusammengefasst im „Progetto Siciliano”. Auf der Suche nach Ordnungen und Strukturen, als die sie die „Inspirationsquelle” Grundriss sieht, stieß sie nun, auf Wunsch von Wita Noack, die Rita Ernst in ihrem Hause ausstellen wollte, aus der tiefen Vergangenheit auf die Moderne.

Im Projekt Mies van der Rohe hat sich Rita Ernst beschränkt auf einige Wohnhäuser von Mies in Europa, darunter auch das unverwirklichte Projekt Haus Nolde (Berlin 1929) sowie seinen Barcelona-Pavillon (1929/Wiederaufbau 1986). Hinzu kam Mies’ symmetrische Neue Nationalgalerie (1968 eröffnet) und, als Reminiszenz an seine Heimat, der Aachener Dom. Schwerpunkt ihres Projektes ist das Landhaus Lemke, das in dessen „Halle” gezeigt wird. Rita Ernsts Auswahl aus Mies’ Werk erfolgte intuitiv; sie folgte der Idee von Schönheit, Funktion und Sinn in von ihr als harmonisch empfundenen Proportionen.

Gelöst von der strukturierenden Funktion des Grundrisses als zweidimensionale Abbildung räumlicher Gegebenheiten, entwickelt Rita Ernst di ausgewählten „Inspirationsquellen” weiter in vollständiger ästhetischer Autonomie. Zu einer klaren Aussage gehört auch eine klare Entscheidung für das Material, die Technik und die Größe, so Rita Ernst. Nach einem bestimmten System aus ihren selbst entwickelten Formenkatalogen und Farbalphabeten, das sie der jeweiligen Bearbeitung zugrunde legt, entstehen verschiedene Variationen und Kombinationen in den Gemälden. Horizontale und Vertikale sind bereits seit den Achtziger Jahren wesentliche Bestandteile ihres künstlerischen Vokabulars. Damit ist sie Mies’ streng orthogonal angelegten Entwürfen sehr nahe. Das Grundraster bleibt spürbar, manchmal sehr deutlich, manchmal nur noch als Ahnung. Ihre Analysen und Abstraktionen des jeweils vorgegeben Rasters führt sie zunächst zeichnerisch in progressiv fortschreitenden Serien durch. Dabei erfolgen getrennte Untersuchungen, insbesondere zum Thema Linie, aber auch zu dem der Flächen oder der Eck- und Schnittpunkte. Vor allem die linearen Studien sind aufgrund ihres technisch-konstruktiven Charakters dem architektonischen „Artefaki” Grundriß nahe. Interessanterweise erinnern einzelne Studien in ihrer Anmutung an architektonischen Aufrisszeichnungen und eröffnen damit dem Betrachter Assoziationsmöglichkeiten zurück zur Architektur. Auf Grundlage der zeichnerischen Studien entstehen schließlich in minutiös-exakter Technik die Gemälde auf Leinwand.

Es ist geradezu verblüffend, wie Rita Ernst es versteht, das Miessche Farbklima in ihre Kunst zu transformieren. Man meint seine Vorliebe für natürliche Werkstoffe und ihre je eigene Farbigkeit zu spüren. Und auch das Edle von Materialien wie Marmor oder anderem ausgewählten Naturstein, von ausgesuchten Hölzern, überstrahlt in den Farbklängen sublimiert – übersetzt und doch verwand – die streng komponierten Gemälde. In der Kombination von Farben mit Bezeichnungen wie Kupfer, Stahl, Aluminium, aber auch Grau, Schwarz und Weiß erschafft Rita Ernst Mies’ ausgesuchte Farbklimata ganz neu. Acrylfarben mit Metall-Beimischung lassen Lichtreflektion zu und verleihen den Bildern einen kühlen, edlen, zum Teil fast magischen Glanz. Es entsteht ein „Konzentrat des Konzentrats”, denn anders als in der räumlichen Gegebenheit mit ihren vielfachen, auch dreidimensionalen Eindrücken können wir uns auf das Bild viel unmittelbarer einlassen, nur durch konzentriertes gleichzeitiges Sehen und Empfinden von einem Standpunkt aus. Die Farbkonzeption und -stimmung nimmt den Charakter Miesscher Räume auf, wie etwa die klare Aura von Stahl, Glas, Stein und weißer Wand in der zweiten Fassung des Hauses Lemke. Denken wir an die Außenhaut von Landhaus Lemke, einen Backsteinbau. Rita Ernst nimmt für das Ziegelrot die Farbe Kupfer. Es ist ein schöner Zufall, vielleicht verwandte weibliche Intuition, dass auch Wita Noack für die Buchausgabe ihrer Monographie des Hauses diese Farbwahl getroffen hat.

Einige Türen zu kunsthistorischen Assoziations- und Bezugsräumen seien kurz geöffnet: zu den Designern und Architekten Charles Rennie Mackintosh aus Glasgow (1868-1929), Josef Hoffmann aus Wien (1870-1956) und dem Amerikaner Frank Lloyd Wright (1867-1959). Erlesene Eleganz, Harmonie und Einfachheit zeichnet innenarchitektonische und kunstgewerbliche Entwürfe dieser Künstler aus, die auch japanische Einflüsse verarbeiteten. Konzeptuelle Klarheit und Beschränkung vermochten Raffinesse und Schlichtheit zu etwas Neuem zu verbinden, reinigende Reduktion und strukturelle Logik führten zu stilistischen Entwicklungen, die den Weg in die Moderne ebneten. Es ist die Kombination von geometrisch-kubischer Gestaltung in edler Reduzierung zusammen mit ausgesuchten, sparsam und zurückhaltend angewandten Farben, die Rita Ernsts Projekt Mies van der Rohe und Design-Entwürfe Mackintoshs, Hoffmanns und Wrights ästhetisch verbinden. Neben aller Strenge in Form, Bildkonstruktion und -aufbau ist auch im Werk der Malerin Rita Ernst die ausgewählte, hier so treffend „miesisch” eingesetzte Farbigkeit der Schlüssel zur ganzheitlichen Vollständigkeit der Bilder.

Haus Lemke 1
Die elegante Kombination der unterschiedlich starken schwarzen Balken – nur Waagerechte und Senkrechte – auf kupferfarbenem Untergrund wird unterstrichen von weißen Vierecken, die Kreuzungs- und Eckpunkte der „Wände” markieren und hervorheben. Durch die einheitliche kupferfarbene Grundierung haben alle „Räume”, ob im Grundriß außen oder innen, eine gleiche Wertigkeit. Dies entspricht Mies’ Verdikt, in seinen Entwürfen die Innen- und Außenräume gleichberechtigt und als Gesamtkonzeption zu verstehen. Differenziert und rhythmisiert werden die Flächen in Ernsts Gemälde durch ihre unterschiedliche Größe innerhalb der Gesamtstruktur.

Haus Lemke 2
Die streng senkrecht-waagerecht ausgerichtete Balkenstruktur der ersten Variation ist beibehalten, hier jedoch von Schwarz zu Grau variiert. Eine kühlere, gleichzeitig aber abwechslungsreichere Farbbehandlung der Flächen zeigt im Binnenbreich Schwarz, helles Grau, Aluminium und Stahl. Eine leichte Variation – Verringerung – erfahren die weißen Vierecke an Eck- und Kreuzungspunkte. Die schwarzen Binnenflächen zwischen den hellen verleihen dem Bild eine fast dreidimensional erfahrbare Tiefe und Raumhaltigkeit. Ernste, strenge, männliche Kühle vermitteln in dieser Fassung die Verbindung von Struktur und der hier getroffenen Farbwahl.

Haus Lemke 3
Die Horizontale pausiert in dieser Fassung, die Waagerechte kommt hier lediglich als Flächenabschluß vor. Es dominiert die Vertikale, in reich variierter Form, als kräftiger Balken, als dünner Strich, als rhythmisiert unterbrochene Verbindung des- Unten und des Oben, die zu vibrieren scheinen. Ihr gesellen sich die Vierecke zu, dies alles in Schwarz. Das vertikale System ist wechselnd gefärbten Flächen zugeordnet, in Weiß oder Aluminium. Das Bild hat im Vergleich zu den beiden zuvor genannten Fassungen einen stark dynamischen, man möchte sagen „eiligen” Charakter, wie zum Beispiel das Tickern alter Morse-Alphabete.

Haus Lemke 4
Kupferfarbene Vierecke tanzen auf hellem Grund, alle Balken und Flächen sind verschwunden. Doch immer noch ist die zugrunde liegende Ordnung spürbar. Die Vierecke variieren, sind mal quadratisch, mal liegend, mal stehend ausgerichtete Rechtecke. Heiterkeit und Ungebundensein ist der Effekt, den diese Fassung erzielt, unterstrichen von der hellen Farbwahl.

Haus Lange (drei Varianten)
Hier fällt wiederum besonders auf, wie durch Rita Ernst Bearbeitung Mies’ Anliegen der Gleichbehandlung von Außen- und Innenraum und das Ineinandergehen der Formen in einem „all over”-System tektonischer Verschränkung steht. Weitung und Ballung von Flächen wechseln spannungsvoll ab, eng zusammenstehende Linien mit den begleitenden Eck- und Kreuzungsvierecken neben ruhigen, großzügigen Partien lassen an ein atmendes Gewebe denken, insbesondere in der schwarz grundierten Fassung dieses Krefelder Hauses aus dem Jahr 1930.

Haus Tugendhat (zwei Varianten)
Das elegante schwarzweiße Balken-Kästchen-Raster, generiert aus Mies’ freiem Grundriß mit fließendem Raum, breitet sich auf dem kupferfarbenen Grund aus. Rita Ernst reduziert in der ersten Fassung auf die Vertikalen und Horizontalen und lässt einzig, als Reminszenz an die berühmte Onyxwand des Tugendhatschen Wohnzimmers, einen liegenden schwarzen Stab mit weißen Enden ohne Verbindung zum Raster auf der großen Fläche schweben. Die zweite Fassung ist spiegelsymmetrisch aufgebaut, dieses System wird unterlaufen durch übermalte und hervorgehobene Vierecke auf den beiden Seiten. Farbe befreit Form: Federleicht und zufällig scheinen die farbigen Formen zu tanzen und sind doch eingebunden an ihrem festen Platz.

Barcelona-Pavillon (zwei Varianten)
Weißer Grund und übermalte Schichten sind den beiden betonten Hochformaten zueigen, ein offener und luftiger Charakter in lichter Helligkeit zeichnet die Bilder aus. In der ersten Fassung bleibt das lineare Grundraster der Unterschicht schemenhaft sichtbar, mit Farbe sind ausgewählte Horizontale unterschiedlicher Größe betont, in Kupfer, Gold, Stahl und Aluminium. Die zweite Fassung fragt unter der weißen Übermalung das in Kreuzungen und Ecken transferierte Grundraster und ist darüber in äußerster Reduktion mit winzigen Kreisen in Stahl und Aluminium übersät.

Als „Miessche Essenz” könnte man diese Bilder so lesen, dass mit den beiden Versionen die völlige Trennung von Wand- und Stützensystem im Barcelona-Pavillon thematisiert ist, dass die Übermalung mit dem noch sichtbaren unteren Grundraster für die Transparenz des Bauwerks, auch für seine Glas- und Lichtwände, steht, die Farben in der Balkenversion schließlich für den Chromstahl in Verbindung mit den verwendeten kostbaren Materialien wie Onyx, Travertin und verschiedene Marmorsorten.

Neue Nationalgalerie
Sehr körperhaft tritt die durchgängig tiefschwarze Fläche mit den asymmetrischen weißen Einschnitten an drei Seiten des Bildes auf. Mies’ Ausstellungshalle wurde 1968 eröffnet. Ihr tonnenschweres Stahlkassettendach wird von insgesamt acht Stützen getragen. Bei Rita Ernst kann man sie, als zwei pro Seite angeordnete weiße Quadrate, ebenso als Rundform lesen, die dann – verblüffend – on das Oktogon des Aachener Domes erinnern. Weiße „Auslassungen” markieren zudem die inneren, spiegelsymmetrisch angeordneten reduzierten Elemente des transparenten Mies-Pavillons. Rita Ernst kommt in diesem Bild, in ihrer Sprache, der von Mies erstrebten Auflösung der Polarität Außen-Innen am nächsten. Das tiefe Schwarz transportiert die ehrwürdige Anmutung dieses „Tempels der Moderne”, einer Ikone aus Stahl und Glas.

Aachener Dom
In Schwarz, Anthrazit, Grau und in Gold breitet sich ein zunächst verwirrendes Spannungsgeflecht von Rechtecken und Quadraten in vielfältigen Großen aus. Den 1978 als erstes deutsches Denkmal in das UNESCO Weltkulturerbe aufgenommenen Aachener Dom besuchte der 1886 geborene Mies als Junge täglich, denn zu seiner katholischen Kindheit und Jugend zählte die Tätigkeit als Messdiener. Die Kraft dieses Bauwerkes beeindruckte ihn tief. Das Kernstück, das Oktogon Karls des Großen (begonnen 790 n. Chr.), wurde im 14. und 15. Jahrhundert baulich erweitert. In Rita Ernsts Gemälde vermittelt die Farb- und Formzusammenstellung die Feierlichkeit und den hohen Rang des Bauwerkes, das als Teil der Aachener Kaiserpfalz den Anspruch Karls des Großen auf seine Nachfolge der spätantiken römischen Kaiser verdeutlichen und die Einheit von Kirche und Staat symbolisieren sollte. Gold, die von sich aus lichthaltige Farbe, erfährt hier eine außerordentliche Heraushebung durch die Einbindung in Schwarz und Grau. Das Gold markiert die sakrale Sphäre des Kirchengebäudes als überirdisch entrückt, es kennzeichnet eine himmlische Sphäre, wie auch in den Goldgrundbildern der frühen italienischen Maler, die noch von der byzantinischen Kunst beeinflusst waren. Der Zentralraum Aachener Pfalzkapelle entstammt ebenfalls der byzantinischen Kunst: als ihr Vorbild gilt die 547 in Ravenna errichtete Kirche San Vitale. Die Arbeit Rita Ernsts zum Aachener Dom stellt für sie eine Verbindung zum Ausgangspunkt des Progetto Sicilano dar, zu ihrer Beschäftigung mit uralter Sakralarchitektur.

„Schönheit” ist im Jahr 2010 Thema des Mies van der Rohe Hauses. Die humane Einheit von Ausdrucksgestalt und Lebensform, von funktioneller Klarheit und einsehbarer Rationalität der Komposition ist es, die wir als Schönheit des Werkes empfinden. (Hans Heinz Holz 2001) Diese Definition von Schönheit liegt sowohl Mies’ als auch Rita Ernsts Schaffen zugrunde. Nicht-Wahrheit ist nicht schön. Schönheit kann eigentlich nicht lügen, also wirklich wahre, tiefe Schönheit (Rita Ernst). Klarheit und vor allem einsehbare Rationalität, bei Mies Grundlage seiner Baukunst, bei Rita Ernst die ihrer Gemälde, verbunden mit Intuition – führt diese Kombination zur wahren Schönheit? Ist diese Kombination dem „Gesetz von Ordnung und Freiheit” gleichzusetzen? (…) Architektur ist eine Sprache mit der Disziplin einer Grammatik. Man kann Sprache im Alltag als Prosa benutzen. Und wenn man sehr gut ist, kann man ein Dichter sein. (Ludwig Mies van der Rohe). Dürfen wir, in Kombination und Komposition dieser Ausstellung, Rita Ernsts Bildern und Mies van der Rohes Architektur, eine höhere Ebene sehen und miterleben, eine Poesie „wahrer Schönheit”?

Dr. Bettina Held ist Kunsthistorikerin, Kulturmanagerin und Kulturgeragogin in Berlin